1. Frauen im Gottesdienst
2. Ganzheitlichkeit
3. Inklusivität
4. Verbundenheit
5. Das Fragmentarische menschlichen Lebens
6. Ganzheitlicher Gottesdienst als Prozess
7. Tanz im Gottesdienst als inkarnatorisches Geschehen
8. Liturgische Kompetenz für einen ganzheitlich-inklusiven Gottesdienst
9. Fünf Schritte
10. Zur Verbesserung
Zur Biographie
1. Frauen im
Gottesdienst
Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist zunächst einmal das Leiden an einem
überwiegend als fremd und unheimatlich empfundenen sonntäglichen
Gottesdienststil, an Lieb- und Gedankenlosigkeit, an Langweiligkeit, vor allem
aber an ausgrenzender Sprache, an Gebeten, die ein für Frauen schwierig
gewordenes Gottesbild transportieren.
Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird
verständlich, warum Frauen zunehmend darauf insistieren, dass gegenüber der
gerade für den Protestantismus typischen Wortlastigkeit und Intellektualisierung
der Gottesdienste der andere Pol, nämlich die Erlebnisseite, die Gefühlswelt,
die vielfältigen Sinneswahrnehmungen, die Leiblichkeit, Erotik und Sexualität,
aber auch die dunkle, wilde, agressive Seite von Menschsein wieder "Zutritt zum
Allerheiligsten" bekommt und als eine wichtige Seite des Menschseins in den
Gottesdienst aufgenommen wird.
Es ist hohe Zeit, die Stimme der Frauen zu hören,
ihre Beiträge und kritischen Anfragen in die liturgische Diskussion aufzunehmen,
denn Frauen haben nach so vielen Jahrhunderten des Ausgegrenztseins von
liturgischen Gestaltungs- und Definitionsmöglichkeiten gerade in diesem Bereich
sehr viel in die Kirche einzubringen. Allerdings ist es nicht möglich, für "die
Frauen" zu sprechen, genauso wenig wie dies für überwiegend mit Männern besetzte
Gremien möglich ist, für "die Kirche" zu sprechen.
Die Lebenswirklichkeit und der
Erfahrungshintergrund von Frauen heute sind so vielgestaltig und bunt, der
Prozess der Veränderung insgesamt und für jede Einzelne so fließend, dass es
unmöglich ist, das alles auf einen Nenner zu bringen. Dies muss so deutlich
benannt werden, weil gerade Frauen unter dem Diktat stehen, für ihre ganze
Gattung zu sprechen, und gerade dieser Anspruch ihnen umgekehrt als anmaßend
entgegengehalten wird. Es sind jeweils
bestimmte Frauen, deren Erfahrungen und Kompetenz, deren Reflexion und
theoretische Diskussion sich artikuliert, genauso wie es auch einem männlichen
Theologen wohl ansteht, den Bereich seiner Erfahrungen und die
Gesprächspartnerinnen und -partner zu benennen, die den Hintergrund für seine
jeweilige Reflexion darstellen.
Es sind Frauen, die immer wieder darauf beharren,
dass Begriffe und Bilder wie "Unten", "Erde" oder "Tiefe" genauso heilig sind
wie "Oben, Himmel, Licht". Das Dunkel wird als der Schoß, aus dem alles Leben
wächst, als "heilig" bezeichnet, wie auch die Verwandlung alles Toten, nüchtern
gesprochen, die "Kompostierung" alles Lebens, im Dunklen stattfindet, und dieser
Vorgang heilig ist.
2. Ganzheitlichkeit
Ganzheitlich Gottesdienst zu feiern, bedeutet, dass gegensätzliche Pole, wie z.
B. Licht und Dunkel zwar immer nur nacheinander erlebt und erfahren werden
können, aber dennoch zusammengehören zu einem großen Ganzen. Dass Oben und Unten
in einer Atem- oder Körperübung zwar nur nacheinander erlebt und geübt werden
können, aber gerade in dieser polaren Spannung ein Ganzes ergeben. Dass Lust und
Wut, dass Liebe und Hass, dass Innen und Außen zwar als Verschiedenes
existieren, aber gerade in dieser Verschiedenheit notwendig aufeinander bezogen
sind.
Ganzheitlicher Gottesdienst - und hier liegt der
eigentliche Kritikpunkt in der gesamten "Ganzheitlichkeits-Diskussion", kann nun
jedoch nicht bedeuten, dass an die Frauen wieder delegiert wird, was Männern so
schwer fällt zu leben, nämlich Gefühl und Erdverbundenheit, Emotionalität und
Körperlichkeit. Der Anspruch, als Frauen nun alles und immerzu "ganzheitlich" zu
machen, wird mittlerweile schon wieder zum Klischee, d. h. zur Zwangsjacke, die
den Frauen das Fühlen verordnet und den Männern die Reflexion und den
wissenschaftlichen Diskurs vorbehält. Vielmehr müsste der Lernvorgang in Zukunft
umgekehrt werden und den Männern das Fühlen, die Auseinandersetzung mit ihrer
Anima und auf der anderen Seite den Frauen die Auseinandersetzung mit ihrem
"männlichen" Anteil, ihrer Rationalität und Definitionsmacht, ermöglicht werden.
3.
"Ganzheitlichkeit" und "Inklusivität"
Frauen wollen selbst angesprochen werden und nicht mehr nur mit den "Brüdern"
mitgemeint sein. Sie verstehen sich als zur Ganzheit des Volkes Gottes
dazugehörig und wollen als "Schwestern und Brüder", als "Frauen und Männer"
genannt sein. Die polare Einheit unserer menschlichen Erfahrungen, unserer
Wirklichkeit wird nur dann deutlich und richtig, wenn wir die beiden Weisen von
Menschsein benennen und differenziert benennen und im Benennen auch anwesend
sein lassen.
Inklusivität ist durch die jahrelange Forderung
der Frauen dann in den Vorentwurf der Erneuerten Agende als eines der auch die
liturgische Arbeit leitenden Kriterien aufgenommen und von vielen Stellungnahmen
begrüßt worden. Der Begriff der Inklusivität ist eng verwandt mit dem der
Ganzheitlichkeit, wenn auch beide Begriffe aus ganz verschiedenen Traditionen
stammen. Inklusivität meint ein einschließendes, integrierendes Sprechen und
Denken, das die ursprüngliche Einheit und Zusammengehörigkeit der Wirklichkeit
benennt und im Benennen anwesend sein lässt, ein Sprechen und Denken also, das
Frauen, aber über sie hinaus auch die gesamte Mitwelt, die sozialen und
politischen Strukturen, die ganze Schöpfung im Blick hat und auch benennt.
Inklusivität wurde zunächst allgemein auf
kirchliches Sprechen bezogen. Dies hat Konsequenzen für die Gebetssprache.
Inklusiv-ganzheitlich zu beten heißt, die Fülle des Lebens und zugleich das
Dunkel, die Zerrissenheiten des Lebens zu benennen. Heißt, die Welt der Frauen
zu benennen, ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen und Ängste zu kennen und zur
Sprache zu bringen, genau wie dies für die Erfahrungswelt von Jugendlichen und
Kindern, für alte Menschen und Singles und Alleinerziehende und Männer in ihren
verschiedenen Lebenskontexten gilt.
Im Blick auf ein inklusiv-ganzheitliches
Gottesbild bedeutet dies aber auch, die Monotonie unserer Gottesanreden
aufbrechen zu lassen durch den Reichtum der vielfältigen Gottesnamen, den Frauen
aus ihrer Weise zu glauben und zu beten einbringen. Ob Gott als Vater oder
Mutter, als Schwester, Freundin, Quelle des Lebens, Brücke unseres Vertrauens,
Schatzkammer des Herzens benannt wird - jeder dieser Namen ist dabei gleich
geeignet und gleich unzureichend, um die enge und tiefe Beziehung zu Gott
auszudrücken.
Ganzheitlich-inklusive Gottesbilder und gerade
auch weibliche Gottesbilder finden sich dabei in der Bibel häufiger als gewusst
wird oder die traditionelle Gebetssprache des Gottesdienstes vermuten lässt.
Frauen können hier aus ihrer Erfahrung, Leben in sich zu empfangen, wachsen zu
lassen und auf die Welt zu bringen, einiges für ein ganzheitlich-inklusives
liturgische Sprechen beisteuern. Es ist dies das Wissen um die Beziehung von Ich
und Nicht-Ich, das keine Angst vor dem Fremden hat, sondern in allem Anderssein
doch von einer tiefen Verbundenheit des Seins ausgeht. Inklusivität meint dabei
keine Egalität im Sinn von Gleichmacherei oder gar einer symbiotischen Einheit,
die nur die Wahl zwischen Ersticken oder Flucht beinhaltet, sondern
Verbundenheit im Anderssein.
4. Verbundenheit
Sowohl der Begriff der Ganzheitlichkeit wie derjenige der Inklusivität erweist
sich deshalb als zu eng, zu begrenzt, um lange zu tragen. Es wäre zu prüfen, ob
nicht der Begriff der Verbundenheit angemessener und zutreffender ist, knüpft er
doch an die biblische Tradition des Bundes zwischen Gott und Mensch an, der die
gesamte Tradition der hebräischen Bibel durchzieht. So wie es ein lebendiges
Band gibt zwischen Mutter und Kind, zwischen Ich- und Nicht-ich, anders und doch
auf einer sehr tiefen und seinsbezogenen Ebene miteinander verbunden, dürfen wir
unsere Beziehung zu Gott beschreiben und gestalten. Verbunden zu sein mit der
Quelle des Lebens, eigenständig und dennoch tief verbunden, das ist die
Erfahrung von Heil und Ganzsein - in - Beziehung, ist die Erfahrung von Glück.
Das Ziel jedes Gottesdienstes sollte es sein, diese Verbundenheit und die damit
möglichen Erfahrungen von Heilsein und Heilwerden wieder zu erneuern.
Inklusiv Theologie zu treiben und damit auch eine
entsprechende liturgisch-theologische Reflexion bedeutet dann aber auch, den
multikulturellen und multireligiösen Kontext von Liturgie und Gottesdienst
innerhalb unserer Gesellschaft und Zeit ernstzunehmen und sie auf dem
Hintergrund dieser Verbundenheit Gottes mit seiner Welt als eine Herausforderung
und Chance zu begreifen. "Gottesdienst in unserer Zeit" wird nicht im luftleeren
Raum gefeiert, sondern im Kontext einer zunehmend multireligösen Welt.
Frauen sind hier unbefangener, auch im Umgang mit
Elementen anderer Traditionen, und dies sollte zunächst einmal als lebendiger
Austausch und Gespräch gewertet und nicht sofort mit dem Synkretismusvorwurf
bedacht werden. Insofern es bisher noch kaum ein Bewusstsein für eine
eigenständige liturgisch-spirituelle Frauentradition innerhalb von Kirche gibt,
sind diese Anleihen und das Suchen nach Vorbildern nur allzu verständlich.
5. Das Fragmentarische menschlichen Lebens
Gerade weil der Begriff der Ganzheitlichkeit in sich den Pol menschlicher
Sehnsucht nach Ganzheit festhält, muss der andere Akzent ebenfalls, ja besonders
deutlich benannt werden, um nicht aus der Balance zu geraten. Zur
Ganzheitlichkeit gehört es deshalb ganz wesentlich, dass diese Fragmentarizität
menschlichen Lebens anerkannt und benannt wird. Gerade dies qualifiziert sie zu
einer Baustelle der Zukunft, in der sich der noch nicht vollendete Bauplan des
Zukünftigen immerhin ansatzweise schon realisieren lässt.
Ganzheitlicher Gottesdienst, der diese notwendige
Begrenztheit menschlichen Lebens im Blick hat, wird entlastet vom überfordernden
Anspruch eines abgerundeten, vollkommenen Ideals. Immer bleiben Menschen, Frauen
und Männer, im Entwurf und in der Gestalt ihres Lebens zurück gegenüber ihren
Visionen und Wünschen, halten zurück, was sie eigentlich geben konnten und
sollten und lassen sich auf den Prozess des Lebens nicht ein aus Angst. Dies
alles gehört zum Menschsein, sagen Frauen und dies alles darf und muss auch im
Gottesdienst anwesend sein dürfen, ohne als Sünde negativ qualifiziert zu
werden. Räume für Klage und Trauer, für die Expression von Zerrissenheit und
Überlastung müssen eröffnet werden. Der Anspruch, als müsse jeder von Frauen
gestaltete Gottesdienst "ganzheitlich" sein, muss zurückgewiesen werden im Sinn
eines falschen Vollkommenheitsideals, einer verhängnisvollen Dogmatisierung und
einer neuen Weise von Exklusivität.
6. Ganzheitlicher Gottesdienst als Prozess
Ganzheitlich Gottesdienst zu feiern, bedeutet darüber hinaus, sich in allem
Fragmentarischen und Unfertigen auf einen unabgeschlossenen Prozess einzulassen,
in den wir hineingestellt sind und den wir mitgestalten dürfen als
Mitschöpferinnen und Mitschöpfer Gottes jetzt. Jeder Gottesdienst muss deshalb
Momente und Orte haben, wo mitschöpferisch Neues kreiert und gegenüber den
heiligen Schriften die Feiernden sich selbst als einen ganz eigenen "heiligen
Text" entziffern und entdecken können.
Ganzheitlicher Gottesdienst lebt aber auch davon,
dass er hinein gestellt ist in einen breiten Strom von Spiritualität, von
mystischer Erfahrung, die aus der Ursprünglichkeit der Gottesbeziehung erwächst
und vor aller theologischen Definition einfach existiert. Liturgie ist demnach
zu begreifen als eine geronnene Form von Spiritualität. In unserer eigenen
meditativen Praxis tauchen wir immer wieder hinunter in diesen Strom, ohne den
alle liturgischen Formen und Formeln, und seien sie noch so ganzheitlich,
letztlich hohl bleiben müssen.
Liturgie als eine geronnene Form von
Spiritualität lebt von Meditation als dem vermittelnden Raum, wo alles, was wir
liturgisch als Formen anbieten, sich zunächst einmal in uns selbst
verleiblichen, inkarnieren will und kann. Nur durch und mit dem meditativen
Vergegenwärtigen werden sich die Erfahrungen der Tradition mit den Erfahrungen
heutiger Zeit verbinden lassen.
7. Tanz im Gottesdienst als inkarnatorisches Geschehen
Frauen leben im Gottesdienst, den sie selbst gestalten, ihre Leiblichkeit sehr
viel selbstverständlicher und positiver als dies in den bisherigen Formen
überhaupt möglich war. Der Leib, der beseelte Körper, wird als Medium der
Inkarnation des göttlichen Geistes und positiv gesehen.
Leiblichkeit und Körperlichkeit als Zielpunkt der
Inkarnation, der Fleischwerdung des göttlichen Geistes ernstzunehmen, bedeutet
mehr als nur die fünf Sinne im Gottesdienst anzusprechen. Es bedeutet, sich der
leibhaften, inkarnierten Anwesenheit des Geistes bewusst zu sein, der in uns
wohnt und der durch uns Ausdruck, Expression verlangt und der sich in uns
vermittelt, mediatisiert. Leiblichkeit - das ist die Vermittlung von Geist und
Natur, von Oben und Unten, von Hell und Dunkel, von Ruhe und Bewegung, von Ich
und Wir in uns selbst.
Inkarnatorische Spiritualität und Liturgie will
die Inkarnation Gottes vergegenwärtigen in den Sakramenten, in den Gebeten, in
Predigt, Stille und Schweigen, in den rituellen Momenten und Handlungen, im
ganzen dramaturgischen Aufbau des Gottesdienstes. Dies führt zu einem letzten
Aspekt.
Leibliches Leben ist nur insofern gegeben, als es
sich in Bewegung befindet. Zunächst ist hier an die elementaren körperlichen
Bewegungsabläufe zu denken, den Atemkreislauf, Blutkreislauf, den Herzschlag.
Darüber hinaus sind es die Gesten und Gebärden und vor allem der von Frauen
verstärkt in den Gottesdienst eingebrachte und gepflegte sakrale, meditative
Tanz als ein wesentlicher Ausdruck lebendiger Liturgie, der hier zu nennen ist.
Tanz in seinen verschiedensten Formen und
Bewegungsmustern wurde seit frühgeschichtlicher Zeit als heilig, sakral
verstanden. Gemeinschaftstanz und kultischer Tanz waren noch nicht getrennt.
Dann, im Zuge einer immer stärker patriarchal verfassten Gesellschaft, wird
getrennt in einen weltlichen Volks- oder Gemeinschaftstanz, in einen von
Professionellen ausgeführten kultischen Tanz (Priesterinnen und Priester), davon
abgespalten die Sonderform des Schautanzes als Prostitution des weiblichen
Körpers. Wir Heutigen, als Erbinnen einer
langen Geschichte von Körperentfremdung und Körperdisziplinierung stehen diesen
Gegensätzen zunächst einmal fremd und befangen gegenüber. Wie kann es zu einer
neuen Synthese, zu einer neuen Selbstverständlichkeit symbolischer Kommunikation
kommen?
Tanz als Gebet - es sind nicht ohne Grund bis
heute die großen Tanzfrauen, die hier führend sind, und von ihnen ausgebildet
und angeleitet eine große Zahl von Frauen, die meditativen, sakralen Tanz
anleiten und damit die Kompetenz vieler Frauen in Richtung Leiblichkeit und
Bewegung stärken und ausbilden. Gerade der liturgische, meditative Tanz könnte,
recht verstanden und behutsam angeleitet, wieder neu zu einer Weise des Gebets
werden, durch das sich Menschen körperlich durch ganz spezifische individuelle
oder rituell vorgegebene Bewegungsmuster hineinschreiben in den Raum der Kirche,
der Schöpfung, in die Hand Gottes. Tanz als die Weise, wie Innen und Außen, Ich
und Wir, Himmel und Erde, Melodie und Rhythmus, Klang und Pause so zu einem
komplexen Ganzen sich verbinden, das mehr ist als die einzelnen Teile. Tanz als
gesteigertes Leben kann die lebendige Einheit des Verschiedenen wieder erleben
und empfinden lassen. Die Feiernden werden mit hineingenommen in den Wirbel des
Lebens, in das unaufhörliche Werden von Wirklichkeiten, eingeladen, sich auf die
Schöpfung mitschöpferisch einzulassen.
8. Liturgische Kompetenz für einen ganzheitlich-inklusiven Gottesdienst
Die Frage der leiblich-personalen Authentizität macht deutlich, wie wichtig es
ist, gut im eigenen Leib einzuwohnen und damit versöhnt zu sein. Diese
Achtsamkeit sich selbst gegenüber wird es ermöglichen, die Fülle der anwesenden
anderen leiblich-menschlichen "Texte" entziffern und sich mit ihnen zu einem
großen Ganzen verbinden zu können. Wir müssen neu lernen, inwiefern wir selbst
"Text" sind, ein Zusammengewobenes aus Erfahrung und Geschichte, das aufbewahrt
wird in unseren Körpern und abrufbar und erinnerbar ist in jederZelle unseres
Körpers.
Liturgische Kompetenz bedeutet, wieder
symbolfähig zu werden in einem sehr komplexen Sinn. Dies bedeutet, die Zeichen
der Tiefe und Dunkelheit nicht zu scheuen, sondern verstehen zu lernen als die
polaren Entsprechungen des Lichten und des Hellen, mit den vielfältigen
Gottesbildern und -namen konstruktiv und pastoralliturgisch umgehen zu können.
Es gibt Situationen, in denen eine Mutter-Anrede Gottes anderen mindestens
ebenso viele Schwierigkeiten bereitet wie eine unreflektierte Vater-Anrede.
Liturgische Kompetenz bedeutet nicht zuletzt, spirituelle Präsenz einzuüben.
Diese wird sich nicht ohne das Suchen nach einem eigenen Übungsweg und nach
eigenen Möglichkeiten leibbezogener Gestaltungsformen im Gottesdienst entwickeln
können.
9. Fünf Schritte
Von Anfang an war dabei wichtig, dass der Spannungsbogen, die innere Dynamik des
Gottesdienstes aus anthropologischer Perspektive beschrieben wurde. Der
Gottesdienst wurde dabei verstanden als eine Einheit, in der keiner der
einzelnen Schritte oder Teile, wie etwa die Predigt, herausgelöst werden oder
ein besonderes Gewicht erhalten konnte. Entscheidend war es, die innere Dynamik,
die Dramaturgie des Gottesdienstes zu verstehen und zu gestalten. Ergebnis einer
mehrjährigen Sammlungs- und Reflexionsarbeit war die Ordnung der gesammelten
Texte, Lieder, Tänze und Reflexionen in fünf Schritten. Diese fünf Schritte,
Markierungen für eine Dramaturgie des Gottesdienstes, greifen die vier Schritte
auf, die in der Agende vorgeschlagen sind, ergänzen sie aber um eine Vorphase.
Der erste, vorbereitende Schritt sollte
den sensiblen Übergang oder die Schwelle vom Alltag zum Fest deutlicher
kennzeichnen. Er wurde "Ankommen und Begegnen" genannt. Der Alltag sollte nicht
einfach draußen vor der Tür bleiben. Inklusiv Gottesdienst zu feiern bedeutete
vielmehr, die alltäglichen Freuden und Leiden, die Ohnmachtsgefühle und
Depressionen, Agressivität und Wut, aber auch Lebens- und Bewegungslust mit in
die Kirche zu nehmen und miteinander zu teilen. Gespräch und
Sich-begegnen-Können wird in einer Zeit der Vereinzelung immer wichtiger, ebenso
wie die Möglichkeit, ganz und wirklich "anzukommen", mit der Seele dabei zu sein
und nicht im Vorherigen hängen zu bleiben. Der Übergang zum gemeinsamen Feiern
konnte leichter und konzentrierter vollzogen werden.
Der zweite Schritt wurde "Reinigen und
Aufrichten" genannt. Der traditionelle Begriff "Eröffnung" wurde ersetzt mit
Verben, die die Lebenswirklichkeit von Frauen unter dem Aspekt des Beladenseins,
des Zugeschüttetseins vom Allzuvielen, das sie bedrängt, ausdrücken. Da sind die
Erwartungen der Kinder, des Partners, des Berufes, die alle unter einen Hut
gebracht werden müssen. Da sind vielerlei Sorgen und Leiden, in der Wahrnehmung
von gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und Zerstörung der Schöpfung.
Demgegenüber "aufgerichtet" zu werden, eigenen Stand zu gewinnen, in Stand
gesetzt zu werden, "Ich" sagen zu können, einem Gott gegenüber, der sich freut,
wenn seine Töchter und Söhne keine kleinen Kinder mehr bleiben, sondern
zuversichtlich und gestärkt ihren Weg gehen, das beschreibt in etwa die
Erwartung vieler Frauen, wenn sie zum Gottesdienst kommen.
"Reinigen" sollte der Gottesdienst, aber nicht im
Sinn von "Ich bin schmutzig, mach mich sauber, lieber Gott", sondern eher so:
"Ich komme abgekämpft vom Alltag, bedeckt vom Staub meiner Mühen. Reinige mich,
heiße mich willkommen, mein Gott, bei dir!" Dieser Schritt des Gottesdienstes
ist zu verstehen wie die Fußwaschung zur Zeit Jesu, ein hand- und fußgreiflicher
Willkommensgruß der Gastgeberin, des Gastgebers beim Eintreten in ein Haus. So
müsste der Anfang eines Gottesdienstes sein, dass jeder und jedem deutlich wird:
"Du bist willkommen und lange schon erwartet. Gut, dass du da bist. Tritt ein,
lege ab und verschnaufe ein wenig in der Gegenwart Gottes!"
Der dritte Schritt, traditionellerweise
die "Verkündigung", wird in diesem Aufriss "Wahrnehmen und Bekräftigen" genannt.
Bei eigentlich allen Frauen dieser Arbeitsgruppe, obwohl zur Hälfte selbst
Predigerinnen und Pfarrerinnen, die gerne predigten, war an dieser Stelle eine
Irritation festzustellen. Irgendetwas stimmte nicht mehr an der Zuordnung von
Reden und Schweigen, von Wort und Antwort. Irgendetwas war aus der Balance
geraten. War es, weil Frauen über so lange Zeit hinweg immer nur angepredigt
worden waren? War es, weil keine Antwort, kein Raum zum eigenen Denken und
Sprechen und Nachfragen eingeräumt wurde?
Das Experimentieren mit anderen Formen des
Wahrnehmens war besonders eindrücklich im Blick auf Stille als Medium der
Verkündigung. Eine behutsame Einführung ins Schweigen, eine Zeit der Stille, ein
Bibelwort, dreimal verlesen, dann wieder Stille, kann eine sehr dichte, gefüllte
Zeit sein, die das Bibelwort sich so richtig ausbreiten, in den Hörenden
einwurzeln lässt. Ohne dieses Zur-Mitte-kommen, In-die-Tiefe-gehen, ohne Zeit
und Raum rauscht zu vieles über die Köpfe und Herzen der Gottesdienst Feiernden
hinweg.
Bei jedem der Schritte und Phasen des
Gottesdienstes ist außerdem die polare Zuordnung wichtig: das Wahrnehmen eines
Bibeltextes ist die eine Seite, aber was geschieht mit dem, was verstanden
wurde, was angeklungen ist? Der Bezug zum Handeln, zu den notwendigen
Konsequenzen im privaten oder politischen Bereich, muss deutlich werden.
Wahrnehmen und das Wahrgenommene bekräftigen, umsetzen, in die Tat bringen, sich
einprägen, meiner kleinen Welt zu Hause einprägen, ist die eigentliche Bedeutung
des Bekennens.
Der darauf folgende vierte Schritt im
Gottesdienst wird mit "Teilen und Verbundensein" überschrieben und enthält über
das Abendmahl hinaus vielfältige Möglichkeiten des Teilens. Er bildet mit dem
vorhergehenden Schritt den eigentlich dramaturgischen Höhepunkt der
gottesdienstlichen Gestaltung. Im rituellen Essen und Trinken, in Agapefeier
oder Abendmahl, aber auch durch das Teilen von Lebensgeschichten, durch das
Erzählen und Anteilnehmen, wird hier Verbundenheit erlebt und erfahren.
Eine wichtige Frage stellt sich bezüglich der
Einsetzung des Abendmahls. Der Konflikt an dieser Stelle betrifft die Zuordnung
von ordiniertem priesterlichen Tun und Priesterinnentum aller Gläubigen. Das
Votum der Laiinnen in der Arbeitsgruppe war eindeutig gegen eine Sonderrolle der
Ordinierten gerichtet, hinter der sie eine neue Hierarchisierung vermuteten. Die
Pfarrerinnen selbst konnten zwar den Gemeinschaftsaspekt nachvollziehen, blieben
aber dabei, dass die Verbindung zum gesamtkirchlichen Handeln und Auftrag durch
Ordinierte gewahrt bleiben müsse. Hier muss, gerade im Ernstnehmen einer
wachsenden liturgischen Kompetenz von Laiinnen und Laien mit großer Sorgfalt,
mit Behutsamkeit und im gegenseitigen Zuhören und Ernstnehmen der Verletzungen
vieler Laiinnen durch eine Amts- und Pfarrerskirche das theologische Gespräch
gesucht werden, wenn das liturgische Engagement von Laien in der Kirche wirklich
gefördert werden soll.
Dem Erreichen des dramaturgischen Höhepunktes im
"Teilen und Verbundensein" folgt als fünfter Schritt der Schluss des
Gottesdienstes im "Segnen und Senden", wieder in der polaren Einheit von
persönlichem Zusprechen des Segens und dem Hinausgehen, um den Segen zu
verwirklichen.
10. Zur
Verbesserung
Ob es gelingt, am Beginn des neuen Jahrtausends die Vision eines inklusiven und
ganzheitlichen Gottesdienstes in der von vielen Frauen und Männern ersehnten
Weise zu gestalten? Ob es gelingt, in einer digitalisierten Welt so etwas wie
spirituell-liturgische Biotope zu schaffen, die das innere Überleben der
Menschen ermöglichen? Dies erfordert Gottesdienste als Orte mystischer
Gotteserfahrung jenseits von Reden und Denken, es fordert Räume, in denen das
innere Schmecken und Sehen der Dinge, wie Teresa von Avila es beschreibt,
Wirklichkeit werden kann und in denen sich Heil ereignet, jetzt.
Was für Zielsetzungen und
Gestaltungsmöglichkeiten, was für innovative und experimentelle Wege gibt es, um
einen Gottesdienst zu beschreiben, der "inklusiv" war, d. h. Frauen, Männer und
Kinder, die ganze Mitwelt und Schöpfung mit einschloss und auch die
verschiedenen Bereiche unseres Menschseins mit einbezieht?
Der Vorentwurf der Erneuerten Agende und das
Evangelische Gottesdienstbuch stellen dabei einen wichtigen Impuls dar, der
liturgisch-spirituell interessierte und engagierte Frauen herausfordert, einen
Konsens unter sich festzustellen und gemeinsam zu Konsequenzen zu finden. Die
Lutherische Liturgische Konferenz als Initiatorin eines großen
gottesdienstlichen Erneuerungsprozesses und die Frauen, die sich dadurch
ermutigt wissen, zu ihrer eigenen Sprache zu finden, haben daran einen großen
Anteil.
Überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrags
vor der Lutherischen Liturgischen Konferenz in Leipzig vom 11.-13.03.1996, aus:
Für den Gottesdienst. Informationen. Angebote, Beobachtungen, Fragen, Antworten.
Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik der Ev.-luth. Landeskirche
Hannovers. Liturgische Konferenz Niedersachsens, Heft 49, Hannover, Juni 1997,
S. 2-8. (Erneut gekürzt und bearbeitet.)
Brigitte Enzner-Probst, Dr. Dr. theol.,
geb. am 22.9.1949 in Feucht b. Nbg.
Studium der Theologie, Philosophie und Soziologie in Erlangen, Tübingen und Rom
1977-1982 Assistentin für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät
Erlangen
1982-84 Gemeindepfarrerin in Uttenreuth/Erlangen
1983/84/89 Geburt dreier Kinder
1984-89 Gemeindepfarrerin in Neufahrn/Ndb. Stellenteilung mit Dr. Hermann M.
Probst
1989-96 Theologische Frauenbeauftragte in der Kirchenleitung der ELKiB
1996/97 Gastprofessorin an der Humboldt-Universität Berlin
2000 Hochschulpfarrerin an der Technischen Universität München
2006 Habilitation im Fach Praktische Theologie Bern
2010-2011 Lehrstuhlvertretung an der Kirchlichen Hochschule Neuendettelsau im
Fach Feministische Theologie/Theologische Frauenforschung
2012 Tätigkeit an der Theologischen Fakultät in Bern
Veröffentlichungen zur Thematik:
Im Einklang mit dem Kosmos. Schöpfungsspiritualität lehren, lernen und leben.
Theologische Impulse - Praktische Konsequenzen, Hg. von Brigitte Enzner-Probst,
Elisabeth Moltmann-Wendel, Ostfildern 2013.
Kreative Erlösung. Eine Perspektive auf Schöpfungstheologie und Christologie aus
der liturgischen Praxis von Frauen, in: Brigitte Enzner-Probst, Elisabeth
Moltmann-Wendel, Hg., Im Einklang mit dem Kosmos. Schöpfungsspiritualität lehren,
lernen und leben, Ostfildern 2013.
Performative Körperkonzepte und ihre Bedeutung für die Gemeindearbeit, in:
Gottesdienstkunst, Liturgie als Kultur der Gegenwart, hg. v. Kompetenzzentrum
für Liturgik, Zürich 2012.
Kopf oder Bauch? Für Verstehen kein Platz? Plädoyer für eine performative
Hermeneutik und Didaktik des Gottesdienstes, in: Ralph Kunz, Andreas Marti,
David Plüss, Hg., Reformierte Liturgik -kontrovers, Zürich 2011, 351-368.
"Eure Töchter werden prophetisch reden! (Joel 3,2)". Der Beitrag der
Frauenliturgiebewegung/ der liturgischen Praxis von Frauen für die Zukunft der
Kirchen, in: Der Apfel, 99,3,2011,31-37.
Frauenliturgien als performatives liturgisches Geschehen. Der Beitrag der
Frauenliturgiebewegung für den Gottesdienst von morgen, in: Bibel und Liturgie
84,1,2011,53-57.
Berühren - tönen - tanzen!? Liturgische Performances als Kennzeichen
liturgischer Praxis von Frauen (der Frauenliturgie-Bewegung in Deutschland, in:
Hanns Kerner, Hg., Aufbrüche, Gottesdienst im Wandel, Leipzig 2010, 149-168.
Rituelle Seelsorge, in: Pastoraltheologie 98,4,2009,187-209 Frauenliturgien als
Performance. Die Bedeutung von Corporealität in der liturgischen Praxis von
Frauen, Neukirchen 2008.
Aus der Fülle leben, Segensbitten für den Alltag, Claudius-Verlag München 2005.
Heimkommen. Segensworte, Gebete und Rituale für die Kranken- und Sterbegleitung,
München 2004.
Art. "Spiritualität und Liturgie von Frauen", in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber,
Michael Meyer-Blanck, Karl-Heinrich Bieritz (Hgg.), Handbuch der Liturgik, 3.
Auflage, Göttingen 2003, 622-633.
Gottesdienst von Frauen, in: Liturgisches Kompendium, hg. v. Christian Grethlein
u. Günter Ruddat, Göttingen 2003, 194-212.
Schreien lernen oder Von der heilsamen Kraft des Klagens, in: ThPr
3,2002,188-195.
"Brot und Rosen". Liturgiedidaktik als Herausforderung pastoraler Aus- und
Fortbildung. Konsequenzen aus der liturgischen Praxis von Frauen. EvTh 2,
2002,101-112.
Play Ecstasy? - Leiblichkeit und Lust als verdrängte spirituelle und liturgische
Erfahrungen, in: Diakonia 4,33,2002,247-254.
Im Kreis um die Mitte. Gestaltungsbeispiel nach Grundform I, in: Erneuerte
Agende, Entwurf des Gottesdienstbuchs für die EKU und VELKD Hannover 1997,
133-146, jetzt: Ergänzungsband zum EGb, Berlin 2002, 67-79.
Leib Christi und Leib der Frauen-Überlegungen zur ekklesiologischen Relevanz von
Corporealität in der rituellen Praxis von Frauen, in: Susan K. Roll, Annette
Esser, Brigitte Enzner-Probst, Hg., ESWTR-Jahrbuch 9, Leuven 2001, 79-101.
Der weibliche Blick, Feministische Theologie und Frauenliturgien, in: Frauen
gestalten Kirche. Ökumenischer Frauenkongress, hg. Dorothee Moser, Barbara
Schwarz-Sterra, Stuttgart 1998,149-160.
Mit Gott reden wie mit einer Freundin. Das Engagement für eine inklusive
Liturgie als Aufgabe von Gleichstellungsarbeit, in: Katrin Ader, Christiane
Begerau, Johanna Beyer, Hg., Gratwanderinnen, Düsseldorf 1998, 91-100.
Lass spüren deine Macht. Wie kann Liturgie wieder zur Quelle der Stärkung für
Frauen werden?, in: Frauen zwischen Dienst und Amt, Hg. v. Marianne Bühler u. a,
Düsseldorf 1998.
Gottesdienst in unserer Zeit - ganzheitlich und inklusiv - aus der Sicht der
Frauen, in: Für den Gottesdienst. Arbeitsstelle für Gottesdienst und
Kirchenmusik, Evang-Luth. Landeskirche Hannovers, Heft 49, Juni 1997, 2-8.
Gott dienen? Gott tanzen! Gottesbild und Gottesdienst aus der Perspektive von
Frauen, in: Renate Jost / Ulrike Schweiger, Hgg., Feministische Impulse für den
Gottesdienst, Stuttgart 1996,36-58.
Wenn Himmel und Erde sich berühren, Texte, Lieder und Anregungen für
Frauenliturgien, hg. v. Brigitte Enzner-Probst, Andrea Felsenstein-Roßberg,
Gütersloh 1993.
Hodegetik. Zur seelsorgerlichen Begleitung von Theologiestudierenden im Horizont
einer Theologie der Vocatio, Diss. Erlangen 1983.
Link:
http://www.enzner-probst.de/395b16af98a80ecab6db90e67b8ac927/deutsch/lebenslauf/index.html
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