Gottesdienstverbesserung:
Konzept und Begründung


Hans-Hermann Tiemann



1. Das Problem
2. Ein Lösungsangebot: Qualitätsmanagement
3. Der Auftrag
4. Verbesserung und Tradition
5. Liturgische Kompetenz und Fortbildung



1. Das Problem
Dass Gottesdienst landauf landab eine Qualitätssicherung und -verbesserung nötig hat, ist unschwer festzustellen. Man muss nur reguläre Gottesdienste in den umliegenden Gemeinden besuchen.
     Schon die Besucherzahl deutet darauf hin, dass etwas nicht stimmen könnte. Zwar sind Sondergottesdienste wie Konfirmations-, Visitations- und Familiengottesdienste meist gut besucht, jedoch fällt beim "normalen" Sonntagsgottesdienst der Mangel an Teilnehmern deutlich auf. Häufig sind es eine Gruppe von "jungen Alten" sowie zum Gottesdienstbesuch verpflichtete Konfirmanden, die das Bild prägen. Die eigentlich intendierte christliche Gemeinschaft oder das kirchliche "Zentralereignis" einer regelmäßigen Zusammenkunft vor Gott wird in vielen Fällen nicht erkennbar.
     Gibt es dennoch eine ausgeprägte Gottesdienstgemeinde, so zeigt sie ein bestimmtes soziales Milieu passend zu dem, was der Prediger oder die Predigerin bietet, sowie zur Atmosphäre in der Kirche. Suchende, auf welche dieses Profil nicht passt, werden auf diese Weise ausgegrenzt, ob bewusst oder nicht. Beteiligte machen mit, so gut sie können, stellen sich aber aufgrund von Sachzwängen oft nicht der Notwendigkeit, am Gewohnten etwas Wesentliches zu verändern, selbst wenn der Gottesdienstbesuch schwach ist. Was soll man auch tun?
     Man weiß nicht recht, womit man anderen einen Gottesdienstbesuch empfehlen soll. Fragen und Probleme der Gegenwart werden in der Feier vielfach nicht erwähnt. Man bleibt dem Weltbild und dem Erfahrungsraum der Bibel verhaftet oder begnügt sich damit, auf den 2000-jährigen Abstand hinzuweisen. Ein formelhafter religiöser Sprachstil herrscht vor. Gebete wirken überladen, Einstiege, auch in die Predigt, erscheinen unmotiviert oder verdoppelt. Man ist froh, wenn man daraus überhaupt etwas "mitnehmen" kann.
     Fernseh- und Rundfunkbeauftragte der Kirchen, die wegen möglicher Übertragungen Gottesdienste in vielen Kirchen besuchen, berichten übereinstimmend von einem niedrigen Qualitätsstand. Gemeindegottesdienste für die Medien dagegen werden mit hohem Aufwand vorbereitet. Das ist nicht von jeder Gemeinde an jedem Sonntag zu leisten. Dennoch wirken sich gerade solche besonderen Gottesdienste auf die Qualitätserwartungen aus. Ob dadurch mehr Menschen für den Gottesdienst motiviert werden können, bleibt zweifelhaft.

2. Ein Lösungsangebot: Qualitätsmanagement
In Wirtschaft und Verwaltung, vor allem in sensiblen Bereichen von Produktion und Dienstleistung wie der Herstellung von lebenswichtigen oder verkehrsgefährlichen Gütern, lebenserhaltenden, d. h. medizinischen und pflegerischen Maßnahmen, sind so genannte "Qualitätsmanagementsysteme" (QMS) zur Steigerung der Produktqualität und Kundenzufriedenheit zum Teil seit längerer Zeit standardmäßig vorgesehen. Es existieren verschiedene Verfahren:

  1. die Vorgabe von Qualitätsstandards durch leitende Gremien,
  2. der Vergleich mit den "Besten" einer Sparte und die Nachahmung der ermittelten Bestleistungen,
  3. ein gemeinsamer Reformprozess durch Austausch und Zielentwicklung von der "Basis" aus,
  4. ein interner Wettbewerb aller Teile einer Organisation zur Steigerung der Qualität der Abläufe.

Zur Zeit wird erprobt, solche Methoden der Qualitätsverbesserung auf den Gottesdienst anzuwenden. Was nötig ist, muss aber nicht unbedingt auch möglich sein. Manfred Josuttis weist in einem Artikel für den Sammelband "Situationsgerecht Gottesdienst feiern", Band 2, darauf hin, dass Gottesdienstreform in bestimmte "Fallen" (Aporien) geraten kann. Er nennt und beschreibt die "Bedürfnisfalle", die "Ritualfalle", die "Verstehensfalle", die "Erlebnisfalle" und die "Kommunikationfalle" und zeigt die Vergeblichkeit solcher auf Einzelaspekte der Gottesdienstkommunikation gerichteten Verbesserungsanstrengungen auf. Selbst wenn Veränderung in diesen Bereichen erreicht werden sollte, wirkt sich diese nicht unbedingt positiv aus, da die eigentlich religiösen Grundvorgänge von einer anderen, elementareren Logik bestimmt sind, so Josuttis.
     Dies kann jedoch kein Grund sein, auf Verbesserungsanstrengungen zu verzichten. Schon die Reformation stellt eine solche Verbesserung dar. Jesus selbst hat mit seinem "Ich-aber-sage-euch" in der Bergpredigt verbesserte Maßstäbe gesetzt. Paulus vergleicht sich ständig mit anderen Aposteln und stellt seine geistliche Überlegenheit dar. Auch das Volk Israel befand sich in dauerndem Wettbewerb mit den Nachbarvölkern und stritt mit diesen um die bessere, d. h. die wahre Gottesverehrung. Sich der Verbesserung zu entziehen, entbehrt also jeglicher Grundlage, wenn es auch scheinbar Geborgenheit oder Verlässlichkeit vermittelt, wenn man Traditionen pflegt oder einfach beibehält.


3. Der Auftrag
Aufgabe eines Gottesdienstes ist es, das Evangelium von der ewigen Gnade Gottes so auf die gegenwärtige Situation zu beziehen, dass wahrnehmbar wird: "Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!" (2. Korinther 6,2) Gottesdienst soll den Teilnehmenden dabei helfen, sich neu auf die veränderte, gegenwärtige Wirklichkeit einzustellen. Dafür ist es günstig, wenn von der Gegenwart zumindest exemplarisch die Rede ist. Der Sonntagsgottesdienst ist jedoch von der geschichtlichen Dimension nicht zu trennen, da andernfalls ein einmaliger, früherer Besuch, etwa zur Konfirmandenzeit, ausreichen könnte. Gottesdienst muss so gut sein, dass ihm auch am aktuellen Sonntag "nichts vorzuziehen" (Ordensregel des Hl. Benedikt) ist.
     Die so gegebene "Wesensbestimmung" des Gottesdienstes ist nicht die einzig mögliche. Genauso kann man ihn definieren als das, was die christliche Kirche aus den ihr vorgegebenen Kulttraditionen gemacht hat. Oder aber man hält sich an ein inhaltliches, biblisch geprägtes Verständnis nach Apostelgeschichte 2,42: "Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den (gemeinsamen) Gebeten." Sich zu versammeln, die Wahrheit des Glaubens zu vermitteln und anzunehmen, das von Christus selbst überlieferte Gedächtnismahl zu feiern sowie Gott gemeinsam anzurufen, bildete die Keimzelle gottesdienstlicher Praxis. Dies ist bis heute bestimmend.
     Wie es heißt, kann man auch ein kultisch-hochkirchlich ausgeprägtes, d. h. an Opfertraditionen anknüpfendes, ein kerygmatisches, d. h. rein auf die Wirkung des göttlichen Wortes gerichtetes, ferner ein politisches, auf gesellschaftliche Veränderungen zielendes, ein kreatives, den Glauben spielerisch auf verschiedene Themen und Medien anwendendes, sowie ein charismatisches, auf wunderbaren Geistwirkungen beruhendes "Gottesdienstverständnis" entwickeln. Auch wurde die Predigt stärker in den Mittelpunkt gerückt, z. B. eine "seelsorgliche" und ein "rechtfertigende" Wirkung (Predigt als "Plädoyer") des Gottesdienstes in den Mittelpunkt gestellt.
     Solche Etikettierungen kommen jedoch oft durch Unterstellung zustande. Dies sind Vereinseitigen gegenüber der Fülle der Bezüge. Eigentlich dürfen sie den am Gottesdienst Beteiligten nicht übergestülpt werden. Auch kann man am Eingang zur Kirche nicht eine "kultische", "kerygmatische" oder anders geartete Eintrittskarte verlangen. Man sollte nicht anderen das eigene Bild von der Wirklichkeit aufdrängen. Die Kirche ist, wie der Apostel Paulus hervorhob, kein religiöser Club, sondern die öffentliche Zeugengemeinschaft Jesu Christi. Da dieser draußen vor der Stadt von den politischen und religiösen, d. h. öffentlichen Mächten in seiner Umgebung hingerichtet worden war, konnte aus seiner Kirche kein Geheimbund werden.
     Man kann somit nicht einen Bestandteil des Gottesdienstes auf Kosten der jeweils anderen stark machen. Das wäre, als wenn man ein lenkrad-, stoßstangen- oder vorderradbetontes Auto hätte. Pastor/in, d. h. Prediger/in und Liturg/in, ferner Kirchenmusiker/in, Küster/in und Diakon/in sowie die Gemeinde sollen zusammenwirken und sich nicht in verschiedene Richtungen auseinander dividieren. Alle Teile müssen vielmehr zusammenstimmen, alle Gestaltenden und Teilnehmenden sollen gemeinsam handeln, damit Gottesdienst gelingt, ganzheitlich wirkt und Niveau bekommt. Das ist jeder Verbesserungsmaßnahme voraus- und zum Ziel zu setzen. So erhält der Gottesdienst erst die nötige Vielschichtigkeit oder Mehrdimensionalität, die ihn zu einer erfüllenden und beglückenden Veranstaltung macht.
     Es bleibt eine weitreichende und bewegende Menschheitsfrage, wie wir das am besten feiern, was Gott und das Göttliche für uns bedeuten.



4. Qualitätsverbesserung und Tradition: Der Zweck dieser Internetseite
Die vorliegende Internetseite bietet Anregungen und Materialien. Sie lädt dazu ein, Kritik und Vorschläge mitzuteilen, die veröffentlicht und so anderen zugänglich werden. Sie ist nur eine Ressource für die eigene und gemeinsame liturgische Arbeit, soll aber nicht dazu dienen, Verbesserungsmaßstäbe zur persönlichen Abgrenzung einzusetzen. Sie ist nicht als Instrument oder Vergleichsmaßstab gedacht, mit dem man über die Leistung anderer befinden könnte. Man soll damit nicht Kollegen oder gar Auszubildende über ihre Defizite belehren. Sie soll vielmehr den Informationsaustausch zur Qualitätsverbesserung fördern. Sie soll als Kummerkasten (z. B.: "Bei uns in W. soll alles beim Alten bleiben.") und Ideenbörse (Gottesdienstmodelle zu bestimmten Anlässen) Qualitätsverbesserung fördern.
     Wer sich um bessere Gottesdienste bemüht, muss sich entscheiden für das, was ihm oder ihr am Gottesdienst wichtig ist. Man kann nicht gleichzeitig alles optimal verwirklichen. Unterschiedliche Existenz- und Glaubens-verständnisse bestehen nebeneinander. Zentral für die Qualität und für die Wirkung eines Gottesdienstes ist: Welches religiöse Weltbild wird im Gottesdienst dramaturgisch bekräftigt? Hier besteht oft nicht nur ein Widerspruch zur modernen, naturwissenschaftlichen Weltauffassung, sondern auch gegenüber der alltäglichen Lebenserfahrung, z. B.:

  • Welches Verständnis von der Schöpfung und vom Ende der Welt ist glaubhaft?

  • Gibt es wirklich den Abstand von Himmel und Hölle?

  • Sind "Wunder" als apostolische Zeichen (Apg 2,43) möglich?

  • Singen die Engel im Kosmos, so dass man in ihren Chor einstimmen könnte?

  • Ist Jesus als himmlischer Menschensohn und Richter eine Person von alles entscheidender Weltbedeutung?

  • Gibt es eine Lebende und Verstorbene umfassende Gemeinschaft der Kirche?

  • Besteht eine irdisch-himmlische Hierarchie von Heiligen, Mystikern und apostolisch beauftragten Kirchenführern gegenüber den einfachen "Weltchristen"?

  • Oder sind alle Christen Gott gegenüber gleich und haben denselben "zeugenhaft-priesterlich-seelsorglich-diakonischen" Gemeinschaftsauftrag?

Was heißt "Qualität" gegenüber einem solchen Traditionsbestand? Diese können die im Gottesdienst Tätigen demnach nur aufgrund eigener Definitionen und Vorgaben, d. h. Begriffe vom "Wesen" des Gottesdienstes entwickeln oder steigern. Sonst wirkt es von Vorbildern abgeguckt und nachgemacht wie ein "Karaoke-Gottesdienst". Den konfessionellen und richtungsmäßigen Streit darüber, worauf es wie und in welchem Verhältnis ankommt, wird man nicht lösen können, um dann daraufhin die Ausführung zu verbessern. Dies wird zu lange dauern. Man muss früher damit beginnen. Wir fragen hier: Kann man durch homiletisch-liturgische Kompetenz Gottesdienste schon jetzt so verbessern, dass die tatsächliche Gestaltung spürbar attraktiver wird?


5. Liturgische Kompetenz und Fortbildung
Qualität umfasst verschiedene Dimensionen, die sich zum Teil schwer messen lassen. Unschärfen bleiben, auch bei optimalen Voraussetzungen. Theologen müssen gewissermaßen eine von Gott gestellte Aufgabe erfüllen und seine Gedanken nachvollziehen. Wie will man das qualitativ beurteilen?
     Klar ist: Gottesdienst hat wesentlich mit religiösen Informationen und mit den Menschen zu tun, für die diese Informationen gedacht sind und bearbeitet werden. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer journalistisch-pädagogischen Ausprägung der gestalterischen, liturgisch-homiletischen Kompetenz.

Liturgisch-homiletische Kompetenz umfasst:

  • exegetisch-historisches Herkunftswissen (Bibelwissenschaft und Glaubensgeschichte),

  • eine theologisch-philosophische sowie ethische Kernstruktur (Systematische Theologie),
  • die Fähigkeit, eine gemeinsame inhaltliche und dramaturgische Darstellung anzuleiten, d. h. zu rhetorisch-kybernetischer, bewusst gesteuerter Umsetzung und Kommunikation des als wahr und bedeutsam Erkannten (Praktische Theologie).

Diese Aspekte geben Antwort auf die Fragen:

  • Was ist bestimmend, d. h. was ist für die Gegenwart und im Blick auf die Zukunft christlich gesehen von Bedeutung?

  • Wie ist dies anderen zu vermitteln, d. h. wie kann die göttliche Gnade in Jesus Christus gemeinsam empfangen, beim Hören, Singen, Meditieren und Mitmachen in das menschliche Leben eingepflanzt werden? Wie können sie dies am besten für sich selbst entdecken?

Damit sind folgende professionelle Fähigkeiten gefordert:

  • ein journalistischer Umgang mit den vorgegebenen Informationen,

  • eine dramaturgische Umsetzung mit gruppenpädagogisch angeleiteter Beteiligung vieler aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, nicht bloß die "Solovorstellung" eines Religionsbeamten.

Nur so kann die Relevanz des Vorgegebenen und auf unterschiedliche kirchliche Anlässe im Kirchenjahr Verteilte für die Teilnehmer und ihr Umfeld deutlich und spürbar werden. Nur dadurch lässt sich eine wirkliche und wirksame Verbesserung hervorrufen. Psychologie (Hypnotherapie) und literarische Hermeneutik haben ermittelt, dass Botschaften beim Rezipienten nur ankommen, wenn sie die geistige und emotionale Welt der Hörer, deren Atmosphäre, Farben, Gestalten und Begriffe aufnehmen. Nur in lebensweltlich-metaphorischer Passung kommt an, was gemeint ist. Nur was auf Lebenssituationen eingestellt wird, erlaubt entspannte und intensive Beteiligung, innerlich wie äußerlich.
     Mit anderen Worten: Das, worum es geht, muss fasslich und interessant, auf erreichbare Lösungen zielend vermittelt werden. Manfred Josuttis nennt dies einen "lösungsorientierten" Ansatz. Die im Gottesdienst zu verarbeitenden Inhalte müssen demnach differenziert nach sozialen Milieus, Sprachniveau, Wertstrukturen und Umgangsformen der zu erreichenden Personen dargeboten werden, am besten durch kreativ tätige Vertreter dieser Milieus selber oder durch Personen, die sich auf verschiedene Gruppen und ihre Sichtweisen einstellen können wie ein Lehrer auf Schüler von unterschiedlichem Alter und verschiedenen Fähigkeiten. Ein quasi schauspielerischer oder pädagogisch-darstellerischer Rollenwechsel ist nötig, um für unterschiedliche Zielgruppen zu qualitativ hochstehenden Ergebnissen zu kommen.
     Es sind darum nicht unbedingt die beruflich dazu beauftragten Pastorinnen und Pastoren, welche die "besten" Gottesdienste feiern. Lektor/inn/en und Prädikant/inn/en sowie Diakon/inn/e/n und auch "einfache" Gemeindeglieder können bei entsprechendem erfahrungsmäßigem Hintergrund, regelmäßiger liturgischer Fortbildung und Zeit zur Ideenentwicklung u. U. ebenso gut auf die situative Befindlichkeit, die Fragen und Bedürfnisse sowie die Aufnahmefähigkeit und die Potenziale der Beteiligten eingehen. Dies ist es, was die Erfahrung und Beobachtung lehrt.
     Im Ergebnis können alle, die Gottesdienste gestalten und mitgestalten, nur darum gebeten werden, sich regelmäßig um liturgische Fortbildung zu bemühen.


Diskussion und Literaturhinweise: Folkert Fendler: Von der "Qualitas" zur Messung. Theologisch verantwortet von Qualität reden, in: Liturgie und Kultur. Zeitschrift der Liturgischen Konferenz für Gottesdienst, Musik und Kunst, Heft 1-2011, 4-27.