"Hier ist kein Leben."
'Kumpel' Jesus und das Elend unserer Gottesdienste


Klaus Schwarzwäller


1. Katholisches Kontrastbild
2. Leben - Substanz - Würde
3. Geschlossenheit versus Anbiederung
4. Sterbezeichen
5. Wohlbefinden durch Banalisierung?
6. Zelebriertes Sterben
7. Wird das 'Amt' wahrgenommen?
8. Sterbehilfe
9. Todesursache: Wurzellosigkeit
10. Geistliche Konzentration



Zur Biographie


1. Katholisches Kontrastbild
Römisch-katholische Gottesdienste, gerade in der Woche, lassen immer wieder eines spürbar werden: Leben. In ihnen drücken sich Beziehung zur eigenen Kirche, Frömmigkeit und das Nutzen des Gotteshauses für das Glaubensleben aus. In den Gottesdiensten selbst ist die Liturgie entfaltet; sie enthält die großen Grundaussagen des Glaubens; Sprache und Gestus sind vom Alltag deutlich unterschieden; Heiligkeit und Geheimnis Gottes finden Ausdruck; die Predigten fügen sich in diesen Rahmen.
      Dreierlei ist mir in diesen Gottesdiensten nie begegnet: "Verbiederung" (Günther Anders), Rabatt im Inhaltlichen, Verletzung der Form. Da wird weder geködert noch vermeintlichen Bedürfnissen angedient. Dergleichen bedarf es hier nicht. Denn Dreierlei prägt sich aus: Leben (wie schon erwähnt!) sowie Substanz und Würde. Diese bedingen einander. Ohne Substanz kein Leben, sondern bloße Betriebsamkeit; ohne Würde keine Substanz, sondern Beliebiges; ohne Leben keine Würde, sondern hohler Formalismus. Was aber bedeutet das für den Gottesdienst?

2. Leben - Substanz - Würde
Leben spottet jeder Definition, doch es macht sich geltend. Wo es ist, beginnen wir zu schwingen, umhüllt uns ein tragendes Fluidum. Das klingt nicht präzis, doch es ist prägnant: Leben ist weder bestimmbar noch machbar; bestimmbar und machbar sind allenfalls Stimmungen. Und es ist nicht ein Etwas; vielmehr wir selbst "sind" es. Dass wir aber aufleben und uns des Geschenks unserer Kreatürlichkeit überlassen, geschieht nicht irgendwie, sondern bedarf spezifischer Zusammenhänge, die uns hierzu befreien.
      Auch Substanz entzieht sich der exakten Beschreibung; doch wir nehmen sie wahr. Ob Rede oder Staatsakt, ob Musikstück oder Gottesdienst, wir spüren, ob hier nur etwas abspult oder sich uns etwas mitteilt. Wo sich uns etwas mitteilt, da wird das Eingelebte ausgeweitet und die Reduktion des Alltags aufgebrochen. Es mag zugänglich oder spröde sein; wir haben den Eindruck: Es lohnt, es bereichert mein Leben - und wäre es dadurch, dass ich mich "entsetze" wie die Hörer Jesu.
      Würde - in der protestantischen Theologie kaum bedacht - ist bereits aufgrund von Artikel 1,1 GG Gegenstand vielfältiger Untersuchungen. Jetzt sei an die Sicht Kants angeknüpft, dass die Würde aus der Autonomie fließe: Da ist Würde, wo jemand oder etwas für sich selber steht und dadurch Respekt erzeugt. Und wenn Schiller einmal sagt: "... die Würde des Amtes zu üben ...", so unterstreicht er damit, dass sie das Vermögen hat, uns ein bestimmtes Handeln aufzuerlegen. Würde erzeugt also Verbindlichkeit. Und das gerade macht sie aus, dass sie dies ganz selbstverständlich, also ohne Zwang, vermag.
      Es ist am Tage, dass Amtsvollzug ohne Würde lächerlich wird. Würde verkehrt sich darüber in einen bloßen Anspruch ohne tragende Substanz. Und Leben, das nicht aus der Berührung durch Substanz sich erneuert, verkümmert und geht unter im. Alltäglichen.

3. Geschlossenheit versus Anbiederung
Gottesdienst hüben und drüben. Vor diesem Hintergrund ist das Leben in den katholischen Gottesdiensten verständlich, gerade weil die Liturgie ohne modische Angleichungen die großen Worte des Evangeliums klar aussagt und weil in Form und Gestus Würde sich ausprägt. Man muss einmal bei einer Eucharistie-Feier in kleinem Kreise erlebt haben, wie mittendrin der zelebrierende Priester seinen Nachbarn beiläufig bittet, etwas Messwein nachzuholen, ohne dass dadurch die Geschlossenheit und Würde der Feier auch nur berührt wären, um vor Augen zu haben, dass Würde und Substanz nichts mit Steifheit zu tun haben. Gerade umgekehrt: Sie tragen; dadurch geben sie ein angemessenes Verhalten vor.
      Wie anders weithin unsere Gottesdienste! Insgesamt lassen sie eine Kirche erkennen, die im Sterben liegt. Es geht dabei um Erheblicheres als die Vergleichszahlen von Gottesdienstteilnehmern an Werktagen dort und Sonntagen hier, obschon diese Zahlen auf ihre Weise auch Aussagekraft haben. Sie korrespondieren der Differenz zwischen regelrechten Klimazonen: Leben, Substanz und Würde dort, und hier das vielfältige Bemühen, zeitgerecht zu sein, Menschen zu interessieren und anzulocken, die - nicht mehr kommen. Was aber erwartet diejenigen, die sich einstellen?

4. Sterbezeichen
Verdeutlicht sei dies anhand eines Adventsgottesdienstes 1995 im Zentrum einer deutschen Großstadt. Als ich die Kirche etwa zehn vor zehn betrete, pralle ich geradezu zurück: In die weiten Bankreihen haben sich nur wenige Menschen verirrt. Ich höre noch vereinzelte Personen hereinkommen; doch als ich mich zu Beginn umsehe, sitzt nicht einmal in jeder Bankreihe ein Teilnehmer. Der Gottesdienst hebt an; die gute und vorzüglich gespielte Orgel fällt auf; sie kontrastiert ernüchternd dem erbärmlichen Gemeindegesang.
      Ein Bildwitz fällt mir ein: Ein Vater und seine Sprösslinge mit einem Plattenspieler vor dem Weihnachtsbaum. Text: "Stellt euch vor, damals mussten wir noch selber singen!" Heutzutage lässt man singen. Nur, wo Leben ist und etwas uns erfüllt, da singt man selber - so im Fußballstadion, so auf der Familienfeier, so im katholischen Gottesdienst. Der Gesang hier: Nein, er zeugt nicht von Leben. Er ist ein Sterbezeichen.

5. Wohlbefinden durch Banalisierung?
Die Liturgie unterstreicht's. Nicht deswegen, weil sie hierorts in einer innerprotestantischen Gemengelage knapp ausfällt und die Gemeinde ihr spürbar spröde gegenübersteht; es ist die Art ihrer Ausführung. Die Pastorin ist sie sorgfältig durchgegangen: Jedes große, jedes möglicherweise Befremden erregende Wort ist getilgt; die Sprache ist sorgfältig banalisiert. In Auftreten wie Gestus vermeidet die Pastorin ein deutliches Gegenüber zur Gemeinde. Das Amt hat hier kein Übergewicht; es scheint nurmehr eine eher genierende technisch-praktische Notwendigkeit des Funktionsablaufes darzustellen. Als hätte jemand die Parole ausgegeben: "Nur alles vermeiden, was das Wohlbefinden stören könnte!"
      Und man hat erfolgreich vermieden, so erfolgreich, dass nicht einmal mehr fürs Wohlbefinden etwas übrigbleibt. Denn das Dargebotene war nett, fromm, harmlos, leicht verständlich und eingängig. Und die für den geordneten Ablauf dieser Nettigkeiten verantwortliche Pastorin gab durch ihr Verhalten kund, dass alles dieses Nette in unserer Mitte ist und aus ihr erwächst. Kurzum. Liturgie reduzierte sich auf den Vollzug eines christlich verbrämten "Seid nett zueinander!"

6. Zelebriertes Sterben
Hier beging man also das eigene Sterben als Kirche. Das beginnt mit der Weigerung der Pastorin, das Amt, also das Kirchenregiment, wahrzunehmen - erkennbar nicht aus Ungehorsam; ihr ist es darum zu tun, sich zurückzunehmen, ein unangemessenes Gegenüber von Amt und Gemeinde aufzubrechen, den Gemeindegottesdienst wirklich als den der Gemeinde zu gestalten. Das ist löblich; doch in der Art der Durchführung wird nicht nur unangemessen Rabatt gegeben; es wird verramscht.

7. Wird das 'Amt' wahrgenommen?
Das macht, hier ist zweierlei übergangen:
Erstens, dass uns das Amt befohlen ist und wir zu seiner Wahrnehmung ordinieren (und entsprechend ausbilden, examinieren und bezahlen), damit "Botschafter an Christi Statt" der Gemeinde gegenübertreten in Zuspruch und Zusage dessen, was Menschen sich nicht selber sagen können.
      Hier scheinen Amtsausübung und Amtsträger miteinander identifiziert worden zu sein, und zwar so, dass das Amt nicht mehr geistlich, sondern durch die Person bestimmt sich darstellt. Als ob es nicht gerade die gehorsame Wahrnehmung des Amtes als solchen ist, die möglichem Eigensinn des Amtsträgers die Grenze zieht.
      Zweitens, dass das Amt mit der Bestimmung durch die Person entleert und überflüssig wird. Denn nun gibt es nurmehr zu sagen, was diese Person ihrerseits sagen kann, und das ist im Zusammenhang eines Gottesdienstes auf jeden Fall zu wenig.
      Es ehrt die Pastorin, dass sie sich hier nicht ins große Wort oder die theologische Phrase flüchtet, vielmehr offenkundig nur sagt, was sie persönlich abdecken kann. Doch das heißt: Hier gibt es nichts Großes auszusprechen. Denn die großen Aussagen des christlichen Glaubens übersteigen noch allemal unser Maß. Deswegen erfordert ja ihre Kundgabe das Amt, also dies, dass das gesprochen werde allein im Namen dessen, der diese Aussagen tatsächlich füllt und bestätigt. Das aber erzwingt nachgerade eine Sprache, die große Worte enthält, die weite Räume erschließt, die Unfassbares zum Ausdruck bringt, die freilich auch Missverständnis, Anstoß und Ärgernis erregen kann. Die verpädagogisierte Sprache ist also ausgeschlossen, soweit inhaltlich geredet wird. Sie ist angemessen, wo es um das Üben, wo es um Etüden geht. Wer aber wollte sich in einen Gottesdienst verirren, in dem man mit Etüden abgespeist würde?
      Hier nun drängt sich der Eindruck auf: Das, was das Amt wahrnehmen und die großen Worte aussprechen, was in der Ausübung des Amtes unbefangen und in der Proklamation der großen Worte authentisch sein lässt, das fehlt. Es fehlt die geistliche Substanz. Ein Gottesdienst jedoch, der nicht gestaltet ist heraus aus geistlicher Substanz, wird zum Ausdruck einer sterbenden Kirche. Und der kann kein Mensch mehr helfen.

8. Sterbehilfe
Allenthalben freilich versuchen Menschen, ihr zu helfen; in diesem Gottesdienst auch die Pastorin. Sie tut's mit einer Predigt, die in der homiletischen Faktur besticht und Phantasie, Kreativität und Sinn für Maß unter Beweis stellt. Mir kommt beim Zuhören: Unter den Bedingungen eines homiletischen Seminars würde diese Predigt sich als Paradigma eignen. Darüber wird mir abermals beklommen, denn die Predigt als solche erregt meine Aufmerksamkeit, d. h., das Gesagte lässt mich leer. Und das nicht deswegen, weil die Form überwucherte oder der homiletische Aufwand selbstzwecklich geworden wäre; es geht an mir vorüber, weil es so banal, so nichtssagend ist.
      Mit allem homiletischen Aufwand wird die Linie gehalten, die bereits mit dem Kanzelgruß sich ankündigt, dass uns nämlich Gnade und Friede gewünscht wird von Gott unserem Vater und unserem Bruder Jesus Christus. Das ist nicht illegitim. Doch wenn nicht gleichzeitig im Gottesdienst Jesus Christus als der Herr ausgerufen, wenn also nicht das Chalcedonense voll gewahrt ist, dann wird nach aller Erfahrung aus dem Bruder Jesus Christus der bloße Kumpel Jesus. Ich weiß nicht, ob die Menschinnen und Menschen in diesem Gottesdienst diesen Bruder und Kumpel Jesus durch Liturgie und Predigt wirklich als den erkennen konnten, den das Neue Testament bezeugt. Gewiss, er wurde eingängig gemacht. Doch der eingängig gemachte Jesus wie sollte ich ihn anbeten, ihm vertrauen, in sein Wort mich bergen können?
      Das Ende des Gottesdienstes entspricht dem Anfang: So wenig in der offenen Schuld eine Absolution von unseren Sünden - das Wort blieb ausgespart - erfolgte, so wenig werden wir jetzt entlassen. Vielmehr tritt die Pastorin unter uns; wir reichen uns die Hand und hören einen frommen Wunsch. Die Rollen sind vertauscht: Wo das Amt wahrzunehmen gewesen wäre, drängt sich die Person heraus, und wo sie auftritt, verblasst das Amt - alles in guten Treuen und gerade darum so auffällig. Dass der Gottesdienst dann ausklingt mit dem luzid gespielten Kopfsatz der d-Moll Triosonate von Bach, vermag nicht zu trösten: Ein kunstvoller Rahmen um eine Banalität herum deprimiert.
      Nein, hier war kein Leben. Von Substanz ließ allenfalls die Orgel etwas spüren. Und die Würde war dem Kumpel Jesus geopfert worden. Statt dessen erlebten wir fromm-getragene Nettigkeit im dämmrig-kirchlichen Raum. Ein evangelischer Gottesdienst war vorüber.

9. Todesursache: Wurzellosigkeit
Wie mit Händen ist hier zu greifen, was das viel beklagte "Elend unserer Gottesdienste" ausmacht. Das ist vor und über der erschreckend häufigen Unbedarftheit, Anspruchs- und Maßstablosigkeit in der Durchführung entscheidend der Mangel an geistlicher Substanz. Das vormals gern zitierte Diktum von Hans Joachim Iwand "Der Verrat am Dogma rächt sich in der Langeweile der Verkündigung" ist einmal mehr akut. Es geht damit nicht um Dogmatik als Selbstwert oder um dogmatische Korrektheit als Ziel, sondern darum, dass zur Geltung komme, was das Dogma in komprimierter Form konserviert. Das aber setzt voraus, dass zu diesen entscheidenden Grundlagen des christlichen Glaubens ein Lebensverhältnis besteht. Sonst entleeren die Sätze des Glaubensbekenntnisses und der Liturgie und wird es entsprechend zunehmend schwer, das Amt wahrzunehmen und diese großen Worte auszusprechen. Dann aber wird der Name "Kirche" Etikettenschwindel und verkehrt sich der Gottesdienst zur erbaulichen Veranstaltung.
      Aus drei Gründen kann das nicht energisch genug betont werden. Zum einen lehrt die Geschichte der Christenheit, dass Kirche wie Glaube gerade aus den vom Dogma gespeicherten geistlichen Grundlagen Vitalität wie auch Kraft zum Wirken in die Welt hinein empfingen. Hierauf hat ebenfalls Iwand den Finger gelegt mit seiner Feststellung, dass die Reformation mit ihren so weitgreifenden Folgen daraus erwuchs, dass in Wittenberg und Genf die Bibel ausgelegt wurde. Die Erinnerung hieran ist um so wichtiger, als, zum anderen, derzeit ein pragmatisches Schlaumeiertum in Blüte steht, das diese geistliche Erfahrung und historischen Fakten beiseiteschiebt und auf Zeitgemäßheit, Humanwissenschaften, Hermeneutik und Homiletik setzt - damit ganz up to date, insofern gegenwärtig überall Verpackung ("outfit") und Präsentation (das "Rüberbringen") vor die Inhalte rückt. Zum dritten aber ist festzustellen, dass weithin das Dogma keine lebendige Wirklichkeit mehr aufruft, und die Theologie leitet hierzu nur unzureichend an. Dem kirchlichen Pragmatismus entsprechen hier Szientisrnus einerseits und Scholastifizierung andererseits, die darin zusammenwirken, dass sie das Dogma zu bloßem Traditionsgut relativieren.
Weithin also ist in den Hintergrund getreten, was die Substanz von Kirche und Gottesdienst ausmacht, was Leben schenkt und was Würde ausstrahlt. Weithin ging uns die Kraft verloren, die Vorgaben der Agenden zu füllen, so dass im Gottesdienst Leben, Substanz und Würde des Evangeliums merklich würden. Human touch, Betriebsamkeit und allerlei Einfälle können hierüber nicht hinwegtäuschen, machen den Mangel vielmehr um so fühlbarer.

10. Geistliche Konzentration
Die Differenz zu den römisch-katholischen Gottesdiensten ist am Tage: Bei uns wurde von Amtsträgern wie Gemeinden der vom Dogma ausgedrückte Grund weithin preisgegeben, auf dem allein lebendige, substantielle Gottesdienste in Würde möglich sind. Dass man auch "drüben" Probleme und Schwierigkeiten hat, sollte nicht ablenken. Denn es ist nicht zu übersehen, dass der eingangs geschilderte Charakter katholischer Gottesdienste einer geistlichen Grundlage sich verdankt, die ihrerseits gepflegt wird in einer lebendigen Tradition der Aszetik.
      Hier können und sollten wir lernen - nicht, wie man bessere Gottesdienste aufzieht; damit wäre nichts begriffen. Lernen vielmehr, dass kirchliches Leben und die Gottesdienste aus dem erwachsen, was ich als geistliche Konzentration bezeichnen möchte. Sie ist uns fremd geworden. Theologie erwächst primär aus intellektueller Arbeit und kirchlicher Rede und kirchliches Handeln aus Zielen und Planung. Sie verbinden sich kaum noch mit Gebet, Meditation, überhaupt Formen geistlichen Lebens. Entsprechend grassiert bei uns eine Plattheit, die sich wie Mehltau auf alles legt, wird zum Schibboleth.
      Um es nur an einem Punkt anzudeuten: Immer noch werden in der protestantischen Theologie Altes und Neues Testament eingereiht in die Literatur der jeweiligen Zeit, und zunehmend steht die Bibel in der Kirche als Kanon zur Frage. Beides kann im derzeitigen Zusammenhang nicht verwundern. Doch wer einmal im Zug ignatianischer Exerzitien neun Stunden einen einzigen Psalm oder ein einziges Gleichnis meditiert hat, kann hier nur den Kopf schütteln: Er hat begonnen, die Bibel als Heilige Schrift zu erfahren und erkennt in dieser offenen Frage und jener exegetischen Haltung das Räsonnieren von Blinden über Farbe.
      Die alte Einsicht ist neu zu lernen; dass für die Christenheit das Grundlegende nicht machbar ist, dass vielmehr Kirche, Theologie und Glaube entscheidend aus Gebet, Meditation und lebendiger Schriftumgang, also aus geistlicher Konzentration sich speisen.
      Diese geistliche Konzentration wäre einerseits gegen bloße Erbaulichkeit und eine amorphe "aus dem Bauch" sich speisende Frömmigkeit zu erkämpfen, wie sie so vielfältig in unseren Gemeinden begegnet. Sie wäre andererseits zu erstreiten gegen jene grassierende aktionistische Extensivität, mit der wir uns längst übernehmen, wie die zunehmende Bedeutungslosigkeit kirchlicher Denkschriften beweist. Und sie wäre der Versuchung abzutrotzen, auf Erfolg und Zahlen zu setzen. Insbesondere aber wäre sie zu erringen gegen die bestehenden Kirchentümer und deren Priorität des "gut Landeskirchlichen".
      Wenn Geistliches nur neben dieses tritt, ist's umsonst; die Altäre des wahren Gottes und Baals bestehen nicht miteinander - und Baal war ein Gott, und man diente ihm fromm in guten Treuen. Nur wenn Geistliches das Landeskirchliche ausrichtet und bestimmt, finden wir zurück zum Leben und gewinnen Substanz und Würde. Indem wir aber zu geistlicher Konzentration fänden, würden wir von jener Kraft etwas erfahren, die das Evangelium schenkt.


Aus: Lutherische Monatshefte, 3/1996, S. 7-10.


Klaus Schwarzwäller, Dr. theol., Prof. em.:

  • geb. 1935 in Flensburg

  • Studium der Theologie 1955-60 in Hamburg, Heidelberg, Basel und Göttingen

  • Promotion 1963 in Hamburg mit einer alttestamentlichen Arbeit

  • Habilitation 1969 in Systematik mit einer dogmatischen Grundlegung der Prädestinationslehre in Göttingen bei Ernst Wolf

  • seit 1972 Professor für Systematische Theologie in Göttingen

  • Arbeiten über Hermeneutik, Luthers Theologie, Wissenschaftstheorie und zur kirchlichen Praxis

Veröffentlichungen von Klaus Schwarzwäller zur Thematik:

  • Gottesdienst und Entertainment. Ein grundsätzlicher Rückblick. In: Deutsches Pfarrerblatt, 90. Jahrgang, hg. Vom Verband der Ev. Pfarrvereine, Heft 7, 1990, S. 289-292.

  • Von der Kanzel. Ein nachdenkliches Brevier für alle, die predigen. Frankfurt/M . u. a. 2003.

  • Ton – Wort – Farbe. Variationen zum evangelischen Gottesdienst. Zusammen mit Uwe Appold, Hans Christian Lorenzen und Michael Mages, Flensburg 2003.

  • Spannungsfelder. Gesammelte Predigten, Waltrop 2004.


Link:

www.uni-goettingen.de/de/56467.html

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