1. Katholisches Kontrastbild
2. Leben - Substanz - Würde
3. Geschlossenheit versus Anbiederung
4. Sterbezeichen
5. Wohlbefinden durch Banalisierung?
6. Zelebriertes Sterben
7. Wird das 'Amt' wahrgenommen?
8. Sterbehilfe
9. Todesursache: Wurzellosigkeit
10. Geistliche Konzentration
Zur Biographie
1.
Katholisches Kontrastbild
Römisch-katholische Gottesdienste, gerade in der Woche, lassen immer wieder
eines spürbar werden: Leben. In ihnen drücken sich Beziehung zur eigenen Kirche,
Frömmigkeit und das Nutzen des Gotteshauses für das Glaubensleben aus. In den
Gottesdiensten selbst ist die Liturgie entfaltet; sie enthält die großen
Grundaussagen des Glaubens; Sprache und Gestus sind vom Alltag deutlich
unterschieden; Heiligkeit und Geheimnis Gottes finden Ausdruck; die Predigten
fügen sich in diesen Rahmen.
Dreierlei ist mir in diesen Gottesdiensten nie
begegnet: "Verbiederung" (Günther Anders), Rabatt im Inhaltlichen, Verletzung
der Form. Da wird weder geködert noch vermeintlichen Bedürfnissen angedient.
Dergleichen bedarf es hier nicht. Denn Dreierlei prägt sich aus: Leben (wie
schon erwähnt!) sowie Substanz und Würde. Diese bedingen einander. Ohne Substanz
kein Leben, sondern bloße Betriebsamkeit; ohne Würde keine Substanz, sondern
Beliebiges; ohne Leben keine Würde, sondern hohler Formalismus. Was aber
bedeutet das für den Gottesdienst?
2. Leben - Substanz - Würde
Leben spottet jeder Definition, doch es macht sich geltend. Wo es ist,
beginnen wir zu schwingen, umhüllt uns ein tragendes Fluidum. Das klingt nicht
präzis, doch es ist prägnant: Leben ist weder bestimmbar noch machbar;
bestimmbar und machbar sind allenfalls Stimmungen. Und es ist nicht ein Etwas;
vielmehr wir selbst "sind" es. Dass wir aber aufleben und uns des Geschenks
unserer Kreatürlichkeit überlassen, geschieht nicht irgendwie, sondern bedarf
spezifischer Zusammenhänge, die uns hierzu befreien.
Auch Substanz entzieht sich der exakten
Beschreibung; doch wir nehmen sie wahr. Ob Rede oder Staatsakt, ob Musikstück
oder Gottesdienst, wir spüren, ob hier nur etwas abspult oder sich uns etwas
mitteilt. Wo sich uns etwas mitteilt, da wird das Eingelebte ausgeweitet und die
Reduktion des Alltags aufgebrochen. Es mag zugänglich oder spröde sein; wir
haben den Eindruck: Es lohnt, es bereichert mein Leben - und wäre es dadurch,
dass ich mich "entsetze" wie die Hörer Jesu.
Würde - in der protestantischen Theologie kaum
bedacht - ist bereits aufgrund von Artikel 1,1 GG Gegenstand vielfältiger
Untersuchungen. Jetzt sei an die Sicht Kants angeknüpft, dass die Würde aus der
Autonomie fließe: Da ist Würde, wo jemand oder etwas für sich selber steht und
dadurch Respekt erzeugt. Und wenn Schiller einmal sagt: "... die Würde des Amtes
zu üben ...", so unterstreicht er damit, dass sie das Vermögen hat, uns ein
bestimmtes Handeln aufzuerlegen. Würde erzeugt also Verbindlichkeit. Und das
gerade macht sie aus, dass sie dies ganz selbstverständlich, also ohne Zwang,
vermag.
Es ist am Tage, dass Amtsvollzug ohne Würde
lächerlich wird. Würde verkehrt sich darüber in einen bloßen Anspruch ohne
tragende Substanz. Und Leben, das nicht aus der Berührung durch Substanz sich
erneuert, verkümmert und geht unter im. Alltäglichen.
3. Geschlossenheit versus Anbiederung Gottesdienst hüben und
drüben. Vor diesem Hintergrund ist das Leben in den katholischen Gottesdiensten
verständlich, gerade weil die Liturgie ohne modische Angleichungen die großen
Worte des Evangeliums klar aussagt und weil in Form und Gestus Würde sich
ausprägt. Man muss einmal bei einer Eucharistie-Feier in kleinem Kreise erlebt
haben, wie mittendrin der zelebrierende Priester seinen Nachbarn beiläufig
bittet, etwas Messwein nachzuholen, ohne dass dadurch die Geschlossenheit und
Würde der Feier auch nur berührt wären, um vor Augen zu haben, dass Würde und
Substanz nichts mit Steifheit zu tun haben. Gerade umgekehrt: Sie tragen;
dadurch geben sie ein angemessenes Verhalten vor.
Wie anders weithin unsere Gottesdienste!
Insgesamt lassen sie eine Kirche erkennen, die im Sterben liegt. Es geht dabei
um Erheblicheres als die Vergleichszahlen von Gottesdienstteilnehmern an
Werktagen dort und Sonntagen hier, obschon diese Zahlen auf ihre Weise auch
Aussagekraft haben. Sie korrespondieren der Differenz zwischen regelrechten
Klimazonen: Leben, Substanz und Würde dort, und hier das vielfältige Bemühen,
zeitgerecht zu sein, Menschen zu interessieren und anzulocken, die - nicht mehr
kommen. Was aber erwartet diejenigen, die sich einstellen?
4. Sterbezeichen
Verdeutlicht sei dies anhand eines Adventsgottesdienstes 1995 im Zentrum einer
deutschen Großstadt. Als ich die Kirche etwa zehn vor zehn betrete, pralle ich
geradezu zurück: In die weiten Bankreihen haben sich nur wenige Menschen
verirrt. Ich höre noch vereinzelte Personen hereinkommen; doch als ich mich zu
Beginn umsehe, sitzt nicht einmal in jeder Bankreihe ein Teilnehmer. Der
Gottesdienst hebt an; die gute und vorzüglich gespielte Orgel fällt auf; sie
kontrastiert ernüchternd dem erbärmlichen Gemeindegesang.
Ein Bildwitz fällt mir ein: Ein Vater und seine
Sprösslinge mit einem Plattenspieler vor dem Weihnachtsbaum. Text: "Stellt euch
vor, damals mussten wir noch selber singen!" Heutzutage lässt man singen. Nur,
wo Leben ist und etwas uns erfüllt, da singt man selber - so im Fußballstadion,
so auf der Familienfeier, so im katholischen Gottesdienst. Der Gesang hier:
Nein, er zeugt nicht von Leben. Er ist ein Sterbezeichen.
5.
Wohlbefinden durch Banalisierung?
Die Liturgie unterstreicht's. Nicht deswegen, weil sie hierorts in einer
innerprotestantischen Gemengelage knapp ausfällt und die Gemeinde ihr spürbar
spröde gegenübersteht; es ist die Art ihrer Ausführung. Die Pastorin ist sie
sorgfältig durchgegangen: Jedes große, jedes möglicherweise Befremden erregende
Wort ist getilgt; die Sprache ist sorgfältig banalisiert. In Auftreten wie
Gestus vermeidet die Pastorin ein deutliches Gegenüber zur Gemeinde. Das Amt hat
hier kein Übergewicht; es scheint nurmehr eine eher genierende
technisch-praktische Notwendigkeit des Funktionsablaufes darzustellen. Als hätte
jemand die Parole ausgegeben: "Nur alles vermeiden, was das Wohlbefinden stören
könnte!"
Und man hat erfolgreich vermieden, so
erfolgreich, dass nicht einmal mehr fürs Wohlbefinden etwas übrigbleibt. Denn
das Dargebotene war nett, fromm, harmlos, leicht verständlich und eingängig. Und
die für den geordneten Ablauf dieser Nettigkeiten verantwortliche Pastorin gab
durch ihr Verhalten kund, dass alles dieses Nette in unserer Mitte ist und aus
ihr erwächst. Kurzum. Liturgie reduzierte sich auf den Vollzug eines christlich
verbrämten "Seid nett zueinander!"
6. Zelebriertes
Sterben
Hier beging man also das eigene Sterben als Kirche. Das beginnt mit der
Weigerung der Pastorin, das Amt, also das Kirchenregiment, wahrzunehmen -
erkennbar nicht aus Ungehorsam; ihr ist es darum zu tun, sich zurückzunehmen,
ein unangemessenes Gegenüber von Amt und Gemeinde aufzubrechen, den
Gemeindegottesdienst wirklich als den der Gemeinde zu gestalten. Das ist
löblich; doch in der Art der Durchführung wird nicht nur unangemessen Rabatt
gegeben; es wird verramscht.
7. Wird das
'Amt' wahrgenommen?
Das macht, hier ist zweierlei übergangen: Erstens, dass uns das Amt
befohlen ist und wir zu seiner Wahrnehmung ordinieren (und entsprechend
ausbilden, examinieren und bezahlen), damit "Botschafter an Christi Statt" der
Gemeinde gegenübertreten in Zuspruch und Zusage dessen, was Menschen sich nicht
selber sagen können.
Hier scheinen Amtsausübung und Amtsträger
miteinander identifiziert worden zu sein, und zwar so, dass das Amt nicht mehr
geistlich, sondern durch die Person bestimmt sich darstellt. Als ob es nicht
gerade die gehorsame Wahrnehmung des Amtes als solchen ist, die möglichem
Eigensinn des Amtsträgers die Grenze zieht.
Zweitens, dass das Amt mit der Bestimmung durch
die Person entleert und überflüssig wird. Denn nun gibt es nurmehr zu sagen, was
diese Person ihrerseits sagen kann, und das ist im Zusammenhang eines
Gottesdienstes auf jeden Fall zu wenig.
Es ehrt die Pastorin, dass sie sich hier nicht
ins große Wort oder die theologische Phrase flüchtet, vielmehr offenkundig nur
sagt, was sie persönlich abdecken kann. Doch das heißt: Hier gibt es nichts
Großes auszusprechen. Denn die großen Aussagen des christlichen Glaubens
übersteigen noch allemal unser Maß. Deswegen erfordert ja ihre Kundgabe das Amt,
also dies, dass das gesprochen werde allein im Namen dessen, der diese Aussagen
tatsächlich füllt und bestätigt. Das aber erzwingt nachgerade eine Sprache, die
große Worte enthält, die weite Räume erschließt, die Unfassbares zum Ausdruck
bringt, die freilich auch Missverständnis, Anstoß und Ärgernis erregen kann. Die
verpädagogisierte Sprache ist also ausgeschlossen, soweit inhaltlich geredet
wird. Sie ist angemessen, wo es um das Üben, wo es um Etüden geht. Wer aber
wollte sich in einen Gottesdienst verirren, in dem man mit Etüden abgespeist
würde?
Hier nun drängt sich der Eindruck auf: Das, was
das Amt wahrnehmen und die großen Worte aussprechen, was in der Ausübung des
Amtes unbefangen und in der Proklamation der großen Worte authentisch sein
lässt, das fehlt. Es fehlt die geistliche Substanz. Ein Gottesdienst jedoch, der
nicht gestaltet ist heraus aus geistlicher Substanz, wird zum Ausdruck einer
sterbenden Kirche. Und der kann kein Mensch mehr helfen.
8. Sterbehilfe
Allenthalben freilich versuchen Menschen, ihr zu helfen; in diesem Gottesdienst
auch die Pastorin. Sie tut's mit einer Predigt, die in der homiletischen Faktur
besticht und Phantasie, Kreativität und Sinn für Maß unter Beweis stellt. Mir
kommt beim Zuhören: Unter den Bedingungen eines homiletischen Seminars würde
diese Predigt sich als Paradigma eignen. Darüber wird mir abermals beklommen,
denn die Predigt als solche erregt meine Aufmerksamkeit, d. h., das Gesagte
lässt mich leer. Und das nicht deswegen, weil die Form überwucherte oder der
homiletische Aufwand selbstzwecklich geworden wäre; es geht an mir vorüber, weil
es so banal, so nichtssagend ist.
Mit allem homiletischen Aufwand wird die Linie
gehalten, die bereits mit dem Kanzelgruß sich ankündigt, dass uns nämlich Gnade
und Friede gewünscht wird von Gott unserem Vater und unserem Bruder Jesus
Christus. Das ist nicht illegitim. Doch wenn nicht gleichzeitig im Gottesdienst
Jesus Christus als der Herr ausgerufen, wenn also nicht das Chalcedonense voll
gewahrt ist, dann wird nach aller Erfahrung aus dem Bruder Jesus Christus der
bloße Kumpel Jesus. Ich weiß nicht, ob die Menschinnen und Menschen in diesem
Gottesdienst diesen Bruder und Kumpel Jesus durch Liturgie und Predigt wirklich
als den erkennen konnten, den das Neue Testament bezeugt. Gewiss, er wurde
eingängig gemacht. Doch der eingängig gemachte Jesus wie sollte ich ihn anbeten,
ihm vertrauen, in sein Wort mich bergen können?
Das Ende des Gottesdienstes entspricht dem
Anfang: So wenig in der offenen Schuld eine Absolution von unseren Sünden - das
Wort blieb ausgespart - erfolgte, so wenig werden wir jetzt entlassen. Vielmehr
tritt die Pastorin unter uns; wir reichen uns die Hand und hören einen frommen
Wunsch. Die Rollen sind vertauscht: Wo das Amt wahrzunehmen gewesen wäre, drängt
sich die Person heraus, und wo sie auftritt, verblasst das Amt - alles in guten
Treuen und gerade darum so auffällig. Dass der Gottesdienst dann ausklingt mit
dem luzid gespielten Kopfsatz der d-Moll Triosonate von Bach, vermag nicht zu
trösten: Ein kunstvoller Rahmen um eine Banalität herum deprimiert.
Nein, hier war kein Leben. Von Substanz ließ
allenfalls die Orgel etwas spüren. Und die Würde war dem Kumpel Jesus geopfert
worden. Statt dessen erlebten wir fromm-getragene Nettigkeit im
dämmrig-kirchlichen Raum. Ein evangelischer Gottesdienst war vorüber.
9.
Todesursache: Wurzellosigkeit
Wie mit Händen ist hier zu greifen, was das viel beklagte "Elend unserer
Gottesdienste" ausmacht. Das ist vor und über der erschreckend häufigen
Unbedarftheit, Anspruchs- und Maßstablosigkeit in der Durchführung entscheidend
der Mangel an geistlicher Substanz. Das vormals gern zitierte Diktum von Hans
Joachim Iwand "Der Verrat am Dogma rächt sich in der Langeweile der
Verkündigung" ist einmal mehr akut. Es geht damit nicht um Dogmatik als
Selbstwert oder um dogmatische Korrektheit als Ziel, sondern darum, dass zur
Geltung komme, was das Dogma in komprimierter Form konserviert. Das aber setzt
voraus, dass zu diesen entscheidenden Grundlagen des christlichen Glaubens ein
Lebensverhältnis besteht. Sonst entleeren die Sätze des Glaubensbekenntnisses
und der Liturgie und wird es entsprechend zunehmend schwer, das Amt wahrzunehmen
und diese großen Worte auszusprechen. Dann aber wird der Name "Kirche"
Etikettenschwindel und verkehrt sich der Gottesdienst zur erbaulichen
Veranstaltung.
Aus drei Gründen kann das nicht energisch genug
betont werden. Zum einen lehrt die Geschichte der Christenheit, dass
Kirche wie Glaube gerade aus den vom Dogma gespeicherten geistlichen Grundlagen
Vitalität wie auch Kraft zum Wirken in die Welt hinein empfingen. Hierauf hat
ebenfalls Iwand den Finger gelegt mit seiner Feststellung, dass die Reformation
mit ihren so weitgreifenden Folgen daraus erwuchs, dass in Wittenberg und Genf
die Bibel ausgelegt wurde. Die Erinnerung hieran ist um so wichtiger, als, zum
anderen, derzeit ein pragmatisches Schlaumeiertum in Blüte steht, das diese
geistliche Erfahrung und historischen Fakten beiseiteschiebt und auf
Zeitgemäßheit, Humanwissenschaften, Hermeneutik und Homiletik setzt - damit ganz
up to date, insofern gegenwärtig überall Verpackung ("outfit") und
Präsentation (das "Rüberbringen") vor die Inhalte rückt. Zum dritten aber
ist festzustellen, dass weithin das Dogma keine lebendige Wirklichkeit mehr
aufruft, und die Theologie leitet hierzu nur unzureichend an. Dem kirchlichen
Pragmatismus entsprechen hier Szientisrnus einerseits und Scholastifizierung
andererseits, die darin zusammenwirken, dass sie das Dogma zu bloßem
Traditionsgut relativieren.
Weithin also ist in den Hintergrund getreten, was die Substanz von Kirche
und Gottesdienst ausmacht, was Leben schenkt und was Würde ausstrahlt. Weithin
ging uns die Kraft verloren, die Vorgaben der Agenden zu füllen, so dass im
Gottesdienst Leben, Substanz und Würde des Evangeliums merklich würden. Human
touch, Betriebsamkeit und allerlei Einfälle können hierüber nicht
hinwegtäuschen, machen den Mangel vielmehr um so fühlbarer.
10. Geistliche
Konzentration
Die Differenz zu den römisch-katholischen Gottesdiensten ist am Tage: Bei uns
wurde von Amtsträgern wie Gemeinden der vom Dogma ausgedrückte Grund weithin
preisgegeben, auf dem allein lebendige, substantielle Gottesdienste in Würde
möglich sind. Dass man auch "drüben" Probleme und Schwierigkeiten hat, sollte
nicht ablenken. Denn es ist nicht zu übersehen, dass der eingangs geschilderte
Charakter katholischer Gottesdienste einer geistlichen Grundlage sich verdankt,
die ihrerseits gepflegt wird in einer lebendigen Tradition der Aszetik.
Hier können und sollten wir lernen - nicht, wie
man bessere Gottesdienste aufzieht; damit wäre nichts begriffen. Lernen
vielmehr, dass kirchliches Leben und die Gottesdienste aus dem erwachsen, was
ich als geistliche Konzentration bezeichnen möchte. Sie ist uns fremd geworden.
Theologie erwächst primär aus intellektueller Arbeit und kirchlicher Rede und
kirchliches Handeln aus Zielen und Planung. Sie verbinden sich kaum noch mit
Gebet, Meditation, überhaupt Formen geistlichen Lebens. Entsprechend grassiert
bei uns eine Plattheit, die sich wie Mehltau auf alles legt, wird zum
Schibboleth.
Um es nur an einem Punkt anzudeuten: Immer noch
werden in der protestantischen Theologie Altes und Neues Testament eingereiht in
die Literatur der jeweiligen Zeit, und zunehmend steht die Bibel in der Kirche
als Kanon zur Frage. Beides kann im derzeitigen Zusammenhang nicht verwundern.
Doch wer einmal im Zug ignatianischer Exerzitien neun Stunden einen einzigen
Psalm oder ein einziges Gleichnis meditiert hat, kann hier nur den Kopf
schütteln: Er hat begonnen, die Bibel als Heilige Schrift zu erfahren und
erkennt in dieser offenen Frage und jener exegetischen Haltung das Räsonnieren
von Blinden über Farbe.
Die alte Einsicht ist neu zu lernen; dass für die
Christenheit das Grundlegende nicht machbar ist, dass vielmehr Kirche, Theologie
und Glaube entscheidend aus Gebet, Meditation und lebendiger Schriftumgang, also
aus geistlicher Konzentration sich speisen.
Diese geistliche Konzentration wäre einerseits
gegen bloße Erbaulichkeit und eine amorphe "aus dem Bauch" sich speisende
Frömmigkeit zu erkämpfen, wie sie so vielfältig in unseren Gemeinden begegnet.
Sie wäre andererseits zu erstreiten gegen jene grassierende aktionistische
Extensivität, mit der wir uns längst übernehmen, wie die zunehmende
Bedeutungslosigkeit kirchlicher Denkschriften beweist. Und sie wäre der
Versuchung abzutrotzen, auf Erfolg und Zahlen zu setzen. Insbesondere aber wäre
sie zu erringen gegen die bestehenden Kirchentümer und deren Priorität des "gut
Landeskirchlichen".
Wenn Geistliches nur neben dieses tritt, ist's
umsonst; die Altäre des wahren Gottes und Baals bestehen nicht miteinander - und
Baal war ein Gott, und man diente ihm fromm in guten Treuen. Nur wenn
Geistliches das Landeskirchliche ausrichtet und bestimmt, finden wir zurück zum
Leben und gewinnen Substanz und Würde. Indem wir aber zu geistlicher
Konzentration fänden, würden wir von jener Kraft etwas erfahren, die das
Evangelium schenkt.
Aus: Lutherische Monatshefte, 3/1996, S. 7-10.
Klaus Schwarzwäller, Dr. theol., Prof. em.:
- geb. 1935 in Flensburg
- Studium der Theologie 1955-60 in Hamburg, Heidelberg, Basel und Göttingen
- Promotion 1963 in Hamburg mit einer alttestamentlichen Arbeit
- Habilitation 1969 in Systematik mit einer dogmatischen Grundlegung der
Prädestinationslehre in Göttingen bei Ernst Wolf
- seit 1972 Professor für Systematische Theologie in Göttingen
- Arbeiten über Hermeneutik, Luthers Theologie, Wissenschaftstheorie und zur
kirchlichen Praxis
Veröffentlichungen von Klaus Schwarzwäller zur Thematik:
- Gottesdienst und Entertainment. Ein grundsätzlicher Rückblick. In:
Deutsches Pfarrerblatt, 90. Jahrgang, hg. Vom Verband der Ev. Pfarrvereine,
Heft 7, 1990, S. 289-292.
- Von der Kanzel. Ein nachdenkliches Brevier für alle, die predigen.
Frankfurt/M . u. a. 2003.
- Ton – Wort – Farbe. Variationen zum evangelischen Gottesdienst. Zusammen mit
Uwe Appold, Hans Christian Lorenzen und Michael Mages, Flensburg 2003.
- Spannungsfelder. Gesammelte Predigten, Waltrop 2004.
Link:
www.uni-goettingen.de/de/56467.html
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